Rolle der Bedürfnisse und Rollenbilder

Bedürfnisse spielen eine zentrale Rolle in der Paarberatung. Dabei begegnen mir immer wieder Rollenbilder, die bestimmte Bedürfnisse fördern oder "verbieten". Ein Plädoyer für mehr Offenheit.

PAARTHERAPIE

L. Fischer

11/24/20232 min read

Eine Sache ist wichtig zu Beginn direkt klar zu stellen: Gefühle und Bedürfnisse sind immer wichtig und sie sind immer richtig. Gefühle und Bedürfnisse können niemandem abgesprochen werden, jeder Mensch hat ein Recht auf seine*ihre ganz eigenen Bedürfnisse und Gefühle. Dabei ist auch ganz klar, dass beide Alltag und im Leben manchmal mit einem Kompromiss ausgehandelt werden müssen, denn das Bedürfnis eines Einzelnen, kann das Bedürfnis eines Anderen beeinflussen. Wie zum Beispiel die Bedürfnisse nach Bindung und Selbstbehauptung innerhalb einer Beziehung in einem immer wieder aufkeimenden Konflikt stehen können. Auch erkennbar in dem Spruch: „Deine Freiheit endet, wo meine anfängt“.

Jeder Mensch hat wichtige Grundbedürfnisse, die immer gleich, aber individuell unterschiedlich stark erfüllt werden müssen. Zu den Grundbedürfnissen zählen wir in der Schematherapie:

- Bindung: verlässliches, vertrauensvolles Verbundensein mit einer liebevoll zugewandten Bezugsperson

- Sicherheit: Beziehungen sind verlässlich, beständig und belastbar (auch in Krisenzeiten)

- Anerkennung und Wertschätzung: man erhält positive Rückmeldung für das eigene Handeln, ist von Bedeutung für andere, wird geschätzt und gesehen in den eigenen Bemühungen

- Wichtigkeit: Man ist anderen wichtig und wertvoll, wird ernstgenommen

- Autonomie: Durchsetzungsfähigkeit für eigene Bedürfnisse und Vorstellungen, freie Entscheidungen zu treffen

- Grenzen: persönliche Grenzen werden von anderen gewahrt

- Kontrolle: Einfluss nehmen können, Dinge steuern, Ordnung und Sicherheit behalten

Manche Bedürfnisse sind dabei eng mit bestimmten Rollenbildern verknüpft, wie „Frauen brauchen vor allem Bindung“ und „Männer brauchen vor allem Autonomie und Anerkennung“. Aber auch „Frauen brauchen immer die volle Kontrolle und müssen alles steuern“ und „Männer dürfen nicht in ihrer Autonomie eingeschränkt werden, ansonsten gehen sie“. Diese Erwartungen spiegeln sich in vielen Beziehungen wider, weil sie durch die gesellschaftliche Debatte und das eigene Rollenverständnis immer wieder verstärkt werden.

Ich denke, die Bedeutung von Grundbedürfnissen sollte nicht vom Geschlecht oder einer Rollenerwartung abhängig gemacht werden. In meinem Verständnis gibt es MENSCHEN, die unbedingt selbst bestimmen wollen, wie sie eine Aufgabe erfüllen und es gibt MENSCHEN, die sich gerne anleiten und inspirieren lassen, die Verantwortung gerne abgeben. Genauso, wie es andere MENSCHEN gibt, die immer wissen müssen, was passieren wird am Tag und wer wann nach Hause kommt für das gemeinsame Abendessen.

Ich bin der Meinung, dass die Rollenvorstellungen und -erwartungen zu einer Idee von Verständnis führen („Du bist ja auch ein Mann/Du bist ja auch eine Frau, also ist es ja klar, dass du X brauchst oder dich so und so verhältst“), aber echtes Verständnis nicht ersetzen können. Es macht einen großen Unterschied, ob ich das Gegenüber in eine Rollenerwartung „presse“ und damit die Freiheit abspreche, individuell und einzigartig zu sein oder ob ich mein Gegenüber ganz genau verstehen und dabei erfahren möchte „Was bedeutet für dich eigentlich Autonomie? Was bedeutet für dich ‚alles im Blick‘ zu behalten? Wo sind deine persönlichen Grenzen?“.

Ansonsten „schießen“ wir mit dem, was wir sagen immer so grob in die richtige Richtung und mit Glück treffen wir so halb, was das Gegenüber meint. Aber so richtig punktsicher treffen können wir nur, wenn wir die Mitte, das Zentrale des Bedürfnisses wirklich verstehen. Ich lege daher hohen Wert in meinen Beratungen ganz individuell auf mein Gegenüber einzugehen, zu verstehen und so meinen Klient*innen auch zu spiegeln, dass jedes Bedürfnis, egal ob es zum klassischen Männer- oder Frauenbild passt, richtig und wichtig ist.